Dirk Baack
Sonnabend, 7. April 2001
Der Tag begann in Giardini Naxos für uns zunächst ungewöhnlich: Zwar war das Frühstück für viertel nach sieben angesetzt, doch hatte man noch eine Überraschung für uns parat: In einer vom Hotel festgelegten Reihenfolge erhielten die einzelnen dort anwesenden Reisegruppen Zugang zum Frühstücksbuffet. Anschließend ging es dann zum Bus (die erste Wanderung heute: etwa 200 Meter Fußmarsch, noch ohne große Eile). Dieser setzte sich - zu Fritzens (nicht Fritzchens) Morgenandacht gen Syrakus in Bewegung, nicht ohne zunächst den Markt von Giardini zu passieren. Die wohl allgemein verwendete Kurzform Giardini ist eine sinnentstellende Bezeichnung, denn das vollständige Giardini Naxos steht für ,,die Gärten von Naxos``, ein Hinweis auf die erste griechische Gründung auf Sizilien, das nur zwei Kilometer entfernte Naxos und die Zitronenplantagen hier, übrigens mit drei bis vier Ernten per anno, die Bäume blühen und tragen gleichzeitig. Die Schale gerade der frischen Zitronen findet übrigens nicht zuletzt für den ,,Lemoncello`` - einen Zitronenlikör - Verwendung.Eine Fahrt von Giardini nach Syrakus führt natürlich zwangsläufig am Ätna vorbei, unvermeidlich ist dementsprechend ein Fotostopp an passender Stelle. Diese Stellen sind allerdings dünn gesät, denn an der Küste verbaut doch so manche Stromleitung den ungetrübten Ätnablick. Unfreundlicherweise meinte der ,,Mongibello``, an diesem Vormittag nach Norden rauchen zu müssen, so daß die Rauchfahne nicht besonders gut sichtbar war, auf dem Rückwege sollte es besser sein. Dann um 08.53 Uhr - wenn meine Uhr nicht wieder stand - meinte der Ätna einmal kurz etwas kräftiger eruptieren zu müssen, Zusätzlich zum Rauch konnten wir auch deutlich Asche erblicken. Die Hinterlassenschaften des Ätna flankierten übrigens die Autobahn häufig in Form durchbrochener Lavafelder, wenn sie nicht gerade als Baumaterial (Basalt) Verwendung gefunden haben. Kurz nach Catania überquerten wir dann den einzigen richtigen Fluß Siziliens - den Seneto am Ponte Primosole, dem schwer unkämpften Landungsort der Briten im Jahr 1944.
Das war dann auch der richtige Zeitpunkt für unsere Reiseführerin, eine Geschichte über die ehrenwerte Gesellschaft zum Besten zu geben. Natürlich ist sie selbst auch eingebunden, ihr Lebensgefährte trägt zwar Lucky Lucianos Nachnamen, stammt aus dessen Heimatort, ist aber wohl nicht mit ihm verwandt: Die Landung der Amerikaner bei Agrigent gelang unter glücklicheren Umständen, nicht zuletzt, da man sich der vielleicht doch etwas fragwürdigen Hilfe der organisierten Kriminalität versichert hatte. Salvatore ,,Lucky`` Luciano als nach dem Krieg freigelassener amerikanischer Mafioso hatte seinen sizilianischen Kollegen Hilfe zugesichert, waren doch Mussolini durchaus beachtenswerte Erfolge im Kampf gegen die ,,Krake`` gelungen. Durch gelbe Halstücher mit einem schwarzen L sollte man sich den Befreiern zu erkennen geben.
Doch zurück in die Gegenwart. Vorbei an Kartoffeläckern - mit den wäßrigen Kartoffeln, die auch reichlich nach Deutschland exportiert werden - an Augusta, dem Sommersitz des zweiten hohenstaufischen Fritz, an unzähligen Raffinerien, die eine Industrialisierung Siziliens bewirken sollten (als Importhafen für Öllieferungen aus Nordafrika) näherten wir uns Syrakus. Zwischen den Raffinerien passierten wir noch Megara Iblea mit Nekropolen im schluchtenreichen Kalkstein. Dann grüßte endlich Syrakus, wobei der erste Blick auf die Kirche Santuario della Madonnina delle Lacrima fiel - einem Betonbauwerk über der Stelle, an der 1953 ein Madonnenbild mehrfach geweint hat. Das spitze Dreieck dieser Kirche war nicht zu übersehen.
Syrakus - um 730 v. Chr. von Korinthern gegründet - konzentrierte sich zunächst auf die Insel Ortigia, nicht zuletzt deswegen günstig gelegen, weil die Insel einen artesischen Brunnen als Süßwasserquelle bot, die Fonte Aretusa. Darüber findet man - wie kann es anders sein - ein kleines mythologisches Bonmot über Jünglinge als Flußgötter und von ihnen verfolgte Nymphen: ,,Auch dem [Jüngling] Alpheios, der im Taygetos-Gebirge und sich durch Arkadien - an Olympia vorbei - ins Ionische Meer schlängelt, sieht man seine Glanzzeiten nicht mehr an. So leidenschaftlich er einst in seine Schwester, die Quelle Arethousa, verliebt, daß er sie über mehr als 500 Kilometer durch das Ionische Meer hindurch bis nach Sizilien verfolgte, wo er sie unter dem Festlandsockel fast erwischt hätte, wäre sie nicht rasch bei Syrakus ans Tageslicht gesprungen.``1 Diese Zeiten sind allerdings inzwischen vorbei, auch die Quelle ist inzwischen (nach einem Erdbeben) salzig geworden. Vorbei, ähnlich wie die glanzvollen Zeiten der Stadt im Altertum. Goethe konnte hier einmal nicht mit einem Reisebericht helfen, er hat Syrakus auf seiner Reise ausgelassen, derart bedeutungslos war der Ort damals. Nichts mehr von der Führung Siziliens, durch die Tyrannis von Syrakus, wie in der Antike, nichts mehr von der jahrhundertelangen Vorbildfunktion des im 5./4. vorchristlichen Jahrhundert errichteten Euryelos-Kastells2. Nur Schiller hält Personen hier für erwähnenswert, Taucher und Bürgschaft finden hier statt. Der zugehörige Dionysius hielt Syrakus lange gegen die Karthager (während andere sizilianische Städte fielen), Hieronymus schlug sich erst im Zweiten Punischen Krieg auf die Seite der Karthager - doch durch Verrat fiel dann schließlich die Stadt an Rom, was zwar meist in erster Linie mit dem Mord an Archimedes verknüpft wird, aber es heißt auch, daß mit dem Fall des griechischen Syrakus, Rom ,,die Kunst erst erkannt habe``. Das Grab des Archimedes - genauer das, was wohl nur so genannt wird - ließen wir links liegen, die San-Giovanni-Katakomben warteten schließlich auf uns. Unter arabischer Herrschaft verlor Syrakus dann jeden übergeordneten Einfluß, aus der Metropole war ein Provinznest geworden.
Zurück zu den Katakomben: Von der Marcianskrypta aus erreichten wir die San-Giovanni-Katakomben. Diese waren - als jüngste von vier Katakomben-Anlagen - vom vierten bis zum sechsten Jahrhundert in Gebrauch, sind aber heute - im Gegensatz zu anderen Anlage in der Nähe - gut begehbar und nicht einsturzgefährdet. Diese Katakomben haben einen völlig anderen Charakter als viele andere: Nichts Enges, Bedrängendes, vielmehr geräumige Gänge, aufgebaut nach altrömischen (Stadt-)Plan mit zwei sich kreuzenden Hauptwegen und unzähligen regelmäßig angelegten Wegen. Aufgelockert wird das ganze System durch große Rotunden, teilweise mit Durchbruch zum Tageslicht. Entsprechend können diese Katakomben natürlich auch nicht als Versteck genutzt worden sein. Es sind wirklich vor allem Begräbnisstätten, erbaut mit dem Wunsch, möglichst nah an Heiligengräbern beigesetzt zu werden. Ein Wort noch über den freundlichen Kustos - der, auch wenn es eigentlich nicht erlaubt war - förmlich dazu einlud, auch einmal ein Bild zu schießen. Zwei Grabtypologien konnten wir in der Unterwelt von Syrakus erkennen: Einerseits Arcosole, gewissermaßen als Familiengrabstätte. Etliche (durchaus zehn oder mehr) Gräber finden sich hier parallel hintereinander. Diese wurden von vorn nach hinten belegt, es wurde immer weiter ins Gestein hinein gegraben. Belegte Gräber wurden mit Steinplatten abgedeckt und mit Mörtel versiegelt. Entlang der Gänge fand man auch kleinere Nischen für Kinderbestattungen und Ossarien.
Ein anderer Typus sind die Rotunden, in denen wohl Sarkophage plaziert worden waren. Gerade hier findet man auch häufig aufwendig gestaltete Gräber. Auch heute kann man noch Reste von Fresken oder Verzierungen der Rundungen an den Eingängen erkennen. Auch das Grab des Bischof Syracosios mit dem (häufig fotographierten) Christus-Monogramm jener Zeit. Angesichts dessen, daß uns als typischen Norddeutschen die Bestattungsart etwas fremdartig war, ließ Andrea sich zu der Bemerkung hinreißen, daß wir uns ,,ohnehin von innen verflüssigen würden``.
Langsam war es an der Zeit, die Katakomben wieder zu verlasssen, und zwar durch die Krypta eines heiligen Marcian, gelegen unterhalb der Giovanni-Kirchenruine. Der hoffentlich immer noch geneigte Leser liest richtig, wenn er hier ,,eines`` gelesen hat, denn man ist sich nicht ganz sicher, welcher es denn tatsächlich war, vielleicht ein Petrusschüler, vielleicht ein Verfolgter im dritten Jahrhundert. Paulus ist hier auch im Jahre 61 vorbeigekommen. Dazu zwei Zitate: ,,Man kann nicht beweisen, daß er hier gepredigt hat, kann aber auch nicht beweisen, daß er hier nicht gepredigt hat. Da er aber wohl überall gepredigt hat, hat er wohl auch hier gepredigt.`` Im gleichen Zusammenhang sprach unsere Andrea übrigens auch davon, daß sie den Italienern erzählt, daß er an dieser Stelle gepredigt hat, während alle anderen erfahren, daß er hier gepredigt haben soll. Diese Krypta - gemäß einer Inschrift ein zur ältesten sizilianischen Kirche umfunktioniertes römisches Ganggrab - lud natürlich zu Gebet und Gesang ein, allerdings war die Akustik dann doch nicht so beglückend - wir sollten noch Besseres an diesem Tag finden.
Doch nun schnell heraus aus der Krypta durch die Johanni-Kirchenruine (mit hübschen dorischen Säulen, die allerdings nicht ganz authentisch waren, die Basen waren zuviel des Guten). Dann tauchte das Markenzeichen dieses Tages erstmalig auf: Avanti, avanti. Wir wurden von unserem Guide höflich, aber doch sehr bestimmt, dazu aufgefordert, nicht zu sehr zu trödeln. Grund zu dieser Zeit: Der Dom schließt um 12. Aber - ein wenig Zeit mußten wir uns noch nehmen: Über wenig ausgetretene Wege (genauer: völlig zugewucherte Pfade) stürmten fast 50 Leute zu August Graf von Platen, der - völlig verarmt - in Syrakus verstorben war, und dem später noch ein Grabmal errichtet worden war, das allerdings wohl nur selten besucht wurde. ,,Nur zur ,Tomba` `` wurde der Dame am Kassiererhäuschen des Museums gesagt, und wir stürmten ebendorthin. Hier konnte dann endlich der Reisemarschall (so wurde er jedenfalls auf früheren Reisen gern genannt) Das Grab im Busento vor der Büste des Dichters rezitieren:
Nun aber g'schwind zum Dom, der ja um 12 schließt - ein wenig High-Noon-Stimmung ist nicht verkehrt, drohend wartet zwar nicht die Räuberbande, aber doch der Kustos mit seinem Schlüssel. Auch die Straßen sind nicht ganz so ausgestorben wie in besagten Western, aber bedrohlich ist die Stimmung allemal.
Ohne eigentlich viel von Ortigia zu sehen, erreichten wir dann aber doch durchaus rechtzeitig den Dom Santa Maria delle Colonne. Da sahen uns also vielfach veränderte zweieinhalb Jahrtausende an: Unter Gelon 480 v. Chr. als Athenatempel anläßlich eines Sieges über Agrigent und Karthago errichtet, wurde das gute Stück im siebten Jahrhundert zur Kirche umgebaut. Man breche ganz einfach Bögen in die Cella - fertig ist das Hauptschiff; weiter vermaure man die Zwischenräume zwischen den äußeren Säulenreihen (diesmal echte dorische Säulen) - sieh da: eine Kirche, wobei man die Apsis einfach unverändert übernommen hat. Gut, die seismische Tätigkeit in dieser Gegend (1483) hat ein wenig dazu beigetragen, daß sich die eine oder andere Säule bedrohlich nach innen neigt, aber der Bau ist eben doch solide, fest gemauert in der Erden ...Erdbeben waren dann immer eine willkommene Gelegenheit, den Bau an den Zeitgeist anzupassen. Beispielsweise ein Renaissanceportal um 1483, 1693 die barocke Fassade, die eine romanische ersetzt hat. Damals hat man übrigens so kräftig barockisiert, daß Karl Baedekers Mannen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Das Bauwerk kaum für bedeutend hielten. Erst im Zuge einer Debarockisierung im Jahre 1927 erhielt das Innere der Kirche wieder die heutige strenge Gestalt, die auf den Tempel zurückgeht. Nur normannisches Taufbecken, Kassettendecke aus dem 16. Jhd. und einige byzantinische Fenster sind deutlich jünger. Lediglich Sta. Lucia, die Schutzheilige der Stadt, hat noch das Vorrecht, barocke Pracht in einer Seitenkapelle in den Kircheninnenraum zu bringen. Hier findet sich auch das Abbild der Sta. Lucia, daß am Ostersonntag, am 12. Mai und am 13. Dezember von 50 Männern durch Syrakus getragen wird.
Wenn auch die Debarockisierung im Inneren wohl Interessantes zu Tage gebracht hat, so hat man doch wohl daran getan, die Westfassade nicht anzurühren. Nur so konnte das wirklich gelungene Ensemble des Domplatzes erhalten werden. Vor dem Dom Peter und Paul, links der Bürgermeistersitz, rechts der Bischofspalast, gegenüber ein Museum, eine Bank und so weiter. Auch eine - inzwischen aufgegebene Kirche (schon wieder Santa Lucia) findet sich hier.
Nun war es Zeit für den weiteren Stadtrundgang, der eigentlich nur aus einem kurzen Eilmarsch zur Arethusaquelle3 bestand, denn schließlich mußte rechtzeitig die Mittagspause angetreten werden. Nachdem wir also wußten, wo besagte Nymphe zwischen Papyrusstauden hervorsprudelte, außerdem den Weg zum Bus gewiesen kamen, begann die ausgedehnte Mittagspause.4Zunächst einmal waren die Geldautomaten ein sehr gesuchtes Gut, alldieweil diese in den letzten Tagen etwas knapp waren. Wohl denen, die sich hier rechtzeitig eindecken konnten, denn irgendwie war es uns wohl gelungen, bei etlichen Automaten, ,,die Bank zu sprengen``. Ansonsten war noch wenig Zeit für den Apollotempel, mehr Zeit für Brot und Pizza in einer Stehbar an zentraler Stelle (mit einer nicht mehr ganz zeitgemäßen Villeroy & Boch-Ausstellung). Direkt davor wurde geschickterweise sogleich mit den unvermeidlichen Ansichtskarten gehandelt, die hier zwar nicht besonders preiswert waren, praktisch war es aber doch, die Bartische an der Straße auch gleich als Schreibtisch benutzen zu können. Auch der gerade endende Markt war hier ganz in der Nähe, aber wenn nur noch Salat- und Fischreste auf der Straße verstreut herumliegen, oder mehr oder minder wohlriechende Düfte verbreiten ist es kein besonders malerischer Anblick mehr. Dann noch schnell zurück zum Bus, vorbei an einem rollenden Eisstand, dessen Eisverkäufer das Geschäft seines Lebens gemacht hat, war doch um diese Zeit kaum noch Eis in Ortigia zu erstehen, an einer Stelle sagte man mir, das Eis sei zu hart, um noch portioniert zu werden, anderenorts war es zu weich. Der große Parkplatz - oder besser die große Leere - am Hafen wirkte reichlich überdimensioniert, wie das Verwaltungsgebäude aus dem ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts direkt dahinter, vieles hier scheint schon geschäftigere (und bedeutendere) Tage gesehen zu haben. So verlassen wir denn also Ortigia, den Altstadtbezirk von Syrakus und wenden uns Neapel - pardon Neapolis - der Neustadt, zu.